Ausstellungshalle „basis“: Ein gewaltsamer Tod war Auslöser für Miryam Charles Arbeiten

Foto: Edda Rössler
Zwischen Hauptbahnhof und Gutleutviertel, in der Gutleutstraße 8, führt ein schmaler Lichtkegel in einen ruhigen Klangraum. Stimmen tauchen auf und verschwinden wieder, man hört Atem, einen Liedfetzen, ein Rauschen wie Meer.
Wer die Frankfurter Ausstellungshalle basis betritt, erlebt mit „Atlas for the Disappeared“ eine Art Karte der Erinnerung. Die Schau lädt dazu ein, einen Moment innezuhalten. Es ist die erste Einzelausstellung der haitianisch-kanadischen Künstlerin Miryam Charles in Deutschland. Ihre Werke schaut man nicht nur an, man erlebt sie mit vielen Sinnen. Dem Kurator Lukas Picard gelang eine ebenso klare wie fesselnde Ausstellungspräsentation.
Im Mittelpunkt steht die Frage, wie man mit Trauer umgeht. Auslöser ist eine persönliche Geschichte, die Miryam Charles seit Jahren begleitet: der gewaltsame Tod ihrer vierzehnjährigen Cousine in den USA. Die Videos und die Sound-Installation in Frankfurt erzählen nicht den Kriminalfall nach. Sie suchen Nähe, Trost und ein Weiterdenken. „Sie beschäftigt sich vor allem mit Trauer, mit diasporischer Identität, mit Erinnerungen, aber auch mit Verlust“, berichtet Künstlerin und freie Kunstvermittlerin Alime Ertürk. Wichtig sei Charles der Perspektivwechsel: Nicht die Tat steht im Zentrum, sondern das Weiterleben.
Formal arbeitet Charles mit einer bewussten Trennung von Bild und Ton. „Eigentlich spricht Tessa, aber wir hören etwas anderes“, deutet Ertürk die Figur, mit der Charles die erwachsen gewordene Cousine imaginiert. Der Ton stammt aus einem privaten Archiv, das die Künstlerin seit ihrer Jugend sammelt. „Die Soundaufnahmen stammen größtenteils aus Haiti“, heißt es im Haus. Aus Stimmen, Liedern und Gesprächsschnipseln entstehen die Bilder. Durch dieses Auseinanderrücken von Hören und Sehen entsteht Spannung. Was wir zu wissen glauben, öffnet sich neuen Möglichkeiten. Genau dort wächst die Empathie dieser Arbeiten.
Die haitianischen Wurzeln von Miryam Charles sind dabei nicht nur eine biografische Notiz, sie prägen die Atmosphäre der Ausstellung. Gedreht wurden die filmischen Sequenzen in Connecticut, Kanada, St. Lucia und Dominica, also nicht in Haiti, wo Charles Familie herkommt. Haiti ist aber akustisch präsent, in den Stimmfarben, in den Melodien, im Wechsel von Intimität und Öffentlichkeit. So entsteht eine Poetik der Diaspora: Der Ton trägt das, was das Bild nicht zeigt, und macht Ferne als Nähe erfahrbar.
Der Rundgang in der basis ist klar aufgebaut. Es ist kein schneller White-Cube-Spaziergang, eher eine stille Folge von Stationen. Man bleibt stehen, hört nach, schaut erneut. Zwischen Filmen, Stimmen und Gedichten der Künstlerin verbindet sich allmählich alles zu einem „Atlas“, der keine Länder zeigt, sondern Resonanzen. Wer sich Zeit nimmt, merkt, wie sich die Wahrnehmung verändert. Man hört die Pausen zwischen den Sätzen und die Luft in den Räumen. Das Thema Diaspora wird als Vielstimmigkeit erfahrbar, nicht als Etikett.
Warum hingehen, statt zu streamen? Weil hier die Materialität zählt. Das Flirren des analogen 16-mm-Films. Die räumliche Präsenz des Klangs, die man körperlich spürt. Und weil man in Frankfurt selten so deutlich erlebt, wie Kunst Gemeinschaft stiften kann, ohne zu vereinfachen.
Die Ausstellungshalle basis zeigt regelmäßig internationale Positionen, die in Deutschland erstmals umfassend zu sehen sind. Das trifft auch hier zu. Charles’ Arbeiten sprechen in einer Stadt, deren Biografien oft über Kontinente führen, mit großer Selbstverständlichkeit. Das berührt.
„Atlas for the Disappeared“ zeigt, wie Kunst uns lehren kann, besser zuzuhören, den Toten, den Lebenden und auch uns selbst.
Die Ausstellung, zu der regelmäßig Führungen stattfinden, ist noch bis zum 14. Dezember geöffnet.
Weitere Informationen unter www.basis-frankfurt.de
Text und Foto von Edda Rössler
Am 29. Oktober veröffentlicht in Frankfurter Neue Presse
