Zum 100. Geburtstag des Malers, Zeichners und Autors
„Ein Künstler, der uns fehlt“
Kaum ein anderer Künstler war in der Frankfurter Stadtgesellschaft so präsent wie Ferry Ahrlé (1924 bis 2018). Am 17. Juni hätte das vieldekorierte Multitalent seinen 100. Geburtstag feiern. Sein Wirken strahlt über Frankfurts Stadtgrenzen hinaus. „Mit seinen weitgespannten Aktivitäten trug er entscheidend dazu bei, den Ruf Frankfurts als Kulturstadt im In- und Ausland zu mehren“, so die ehemalige Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth. Was ihn zudem auszeichnete, war seine Begabung für Freundschaft. Beides, sein beeindruckendes künstlerisches Vermächtnis und die aufrichtige Empathie für die Menschen, die er kannte und schätzte, bleibt unvergessen. Der heutige hessische Ministerpräsident Boris Rhein bezeichnete ihn in seinem Kondolenzschreiben an die Witwe Sigrid Ahrlé als „kreatives Genie und jemand, der die Menschen berührte.“
Donnernder Applaus in der Trauerhalle des Frankfurter Hauptfriedhofs, das passiert selten. Gewidmet war er dem außergewöhnlichen Künstler und Menschen Ferry Ahrlé, der am 4. April 2018 verstarb. Dazu aufgerufen hatte Theaterchef Claus Helmer, der neben dem ehemaligen Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann „Ferry“ in seiner Trauerrede würdigte. Es war eine berührende Szene mit Gänsehaut-Charakter, als sich all die anwesenden Politiker, Kulturschaffenden, Prominente und Freunde erhoben und minutenlang Respekt zollten. Besonders betroffen zeigte sich Hilmar Hoffmann, einer der engsten Freunde Ahrlés. „Mit einem der bedeutendsten, weil fantasievollsten und ideensprudelnsten Künstler Frankfurts jahrzehntelang befreundet gewesen zu sein, erfüllt mich mit Stolz“, betonte er. Das April-Wetter spielte Kapriolen, es goss in Strömen, auch der Himmel weinte.
Für viele war es unfassbar, dass der selbst im hohen Alter von 93 Jahren noch immer quirlige, humorvolle und ideenreiche Künstler verstorben war. Als Trost bleiben die Erlebnisse und seine Werke, viele davon an markanten Plätzen in der Stadt.
Ferry, „der das Leben leidenschaftlich liebte“, so sein Freund Prof. Heinz Riesenhuber, hätte den 100. Geburtstag gebührend gefeiert. Zuerst zusammen mit seiner Muse und engen Mitarbeiterin, seiner geliebten Frau Sigrid bei dem Lieblingsitaliener in Eschersheim, ganz in der Nähe seines im Dichterviertel gelegenen Wohnhauses. Noch heute werden dort Grappa-Flaschen angeboten, für die er ein fröhliches Etikett gestaltete. „Mit Grappa fäng’s an…mit Grappa ende’s“, schrieb er. Auch das war Ferry: Wenn es der Kunst diente, wurde die Rechtschreibung angepasst. Zwischen den Zeilen lacht ein beschwingter, bunter Pan mit Zauberflöte, gezeichnet in dem unverkennbar lockeren und treffsicheren Stil Ahrlés. Dem kulinarischen Auftakt wäre eine große Geburtstags-Sause mit vielen Gesprächen, Lachen und bester Unterhaltung inmitten seines schier unerschöpflichen Freundeskreises unweigerlich gefolgt.
„Was Ferry auch gut konnte, war Menschen zusammenbringen. So versammelte er immer wieder Frankfurter Prominenz aus Kunst und Politik um einen großen Tisch in einem Gasthaus in Ginnheim. Und da sang er eines Tages zur Freude des Personals und zu unserem Erstaunen sehr bewegend kroatische Volkslieder, die allerdings ebenso frei erfunden waren wie die Sprache, in der sie mitreißend vorgetragen wurden. Hätte es die Menschen erfreut, Ferry hätte mit zehn Bällen jongliert und Kaninchen aus dem Zylinder gezaubert. Er war ein Alleskönner und… ein sehr lieber Mensch“, erinnert sich die Tatort-Regisseurin Sylvia Hoffman.
Für Ahrlé waren die Hingabe zur Kunst und die Freude an Kommunikation zwei Seiten einer Medaille. Hatte er sich einem neuen Projekt verschrieben, musste er das
kommunizieren. „Ferry Ahrlés Signum war dasjenige einer permanenten Suche nach neuen Ufern, nach neuen Ausdrucksformen, nach neuen Themen und Techniken, um sich und seine Ideen möglichst vielen Menschen zu vermitteln“, erkannte Hilmar Hoffmann.
„Ein Tag ohne zu malen, ist ein verlorener“, war Ahrlés Credo. Jeden Morgen stieg er in sein Atelier in das Dachgeschoss seines Hauses. Doch zuvor telefonierte er. Der Mann war ein wahres Kommunikationsgenie. Am Telefon, das lange noch mit einer Drehscheibe ausgestattet war und auf einem Tischchen neben dem ausladenden grünen Sofa stand, wurden neue Kunstprojekte diskutiert und sich mit Freunden auf den neuesten Stand der Politik, allem voran der Frankfurter Kommunalpolitik, gebracht.
Was nie fehlen durfte, war das Telefonat mit Hilmar Hoffmann, dem Vater des Frankfurter Museumsufers und langjährigen Freund. Die zwei Größen einer Generation teilten sich neben vielen Gemeinsamkeiten auch die Freude am Kino. Der filmbegeisterte Hoffmann setzte sich für die Gründung des DFF Deutsches Filminstitut & Filmmuseum am Schaumainkai ein und zog als langjähriger Verwaltungsratsvorsitzender die Strippen des Museums mit. Ferry Ahrlé hatte sich zuvor einen Namen als begnadeter Gestalter von Filmplakaten gemacht. So kreierte er Plakate zu Filmen von Fellini, Bergman, Buñuel, Truffaut und Polanski.
Das großangelegte Projekt, das über ein Jahrzehnt dauern sollte, kam auf „Ahrlé-typische Weise“ zustande. 1956 lernte er zufällig in der legendären Jimmys Bar im Hotel Hessischer Hof den damaligen Werbeleiter von Constantin Film Theo Hinz kennen. Die Beiden fanden sich sympathisch und aus der Begegnung entstand eine langjährige, erfolgreiche Zusammenarbeit. Hinz war stets stolz, dass er Ferry Ahrlé und dessen grafisches Können für die Film-Klassiker entdeckte. „Durch Ahrlés unverwechselbaren Stil und seine künstlerische Kraft wurden diese Filme herausgehoben aus dem großen Kinoangebot.“ Ferry Ahrlé selbst sagte: „Ich habe immer versucht, meinen Plakaten filmischen Charakter und künstlerisches Niveau zu geben und auch das Atmosphärische eines Filmes plakativ, in einer Art Kurzform zum Ausdruck zu bringen.“ Selbst der damalige Bundespräsident Johannes Rau zeigte sich anlässlich Ferrys 80. Geburtstag beeindruckt. „Mich hat die Vielseitigkeit der Arbeiten und die Vielfalt der Themen beeindruckt, derer Sie sich als Zeichner angenommen haben. Dabei stehen mir natürlich zuerst Ihre unverwechselbaren Plakate vor Augen.“
2007 wurden die Werke nochmals auf der Berlinale gewürdigt. 2022 schenkte Witwe Sigrid Ahrlé den gesamten Nachlass der Filmplakate dem Museum. Über 60 Plakate, darunter zahlreiche, die Ahrlé für Filmklassiker wie Federico Fellinis „La Strada“, Ingmar Bergmans „Wilde Erdbeeren“ oder Orson Wells „Citizen Kane“ schuf. In der Schenkung enthalten sind darüber hinaus zahlreiche Porträtzeichnungen, die Ferry Ahrlé von namhaften Filmgrößen wie Curd Jürgens, Harald Juhnke und Peter Ustinov schuf. Das DFF Deutsches Filminstitut & Filmmuseum stellt ausgewählte Plakate dauerhaft in seinen Räumen aus.
Doch auch der Stadtlandschaft, den schönen Plätzen und der Architektur galt Ahrlés Interesse. Angefangen hatte diese Liebe in den 60er-Jahren als er in Paris, der Stadt der Liebe, lebte und arbeitete. Die Pariser bemerkten sein Können und verliehen ihm 1962 den Prix Toulouse-Lautrec.
Aus seinem zeichnerischen Oeuvre bleibt zudem die 1968 entstandene Zeichnung des Teatro La Fenice in Venedig unvergessen. Schon auf den ersten Blick charakterisiert sie die unverwechselbare Architektur und besticht durch eine gekonnt eingesetzte Hell-Dunkel-Tonalität. Feine, sprudelnde Linien erinnern an zarte Notentöne, die aus dem Opernhaus herausklingen. Die Hommage an eines der bedeutendsten Opernhäuser Italiens ist Musik pur. Vor kurzem erwarb die Swiss Seaside Foundation einige der wenigen noch verbleibenden handsignierten Drucke und spendete sie dem Verein des Opernhauses. Der Erlös soll jungen Musikern zugutekommen und ihre Ausbildung unterstützen.
Als künstlerischer Chronist seiner Zeit beobachtete Ahrlé mit dem Zeichenstift Stadtlandschaften im Entstehen, auch in Frankfurt am Main. Wie etwa den Bau der Frankfurter U-Bahn in den 70er und 80er Jahren. So schuf er eine Reihe von Zeichnungen der damals neu entstehenden U-Bahn-Strecken und –stationen. Ahrlé war beeindruckt von den technischen und menschlichen Leistungen auf den riesigen Baufeldern. Mit feinen Strichen bannte er Szenen der Bauarbeiten und die neuen Bahnsteige und Tunnel auf den Zeichenblock. Einige von ihnen sind seit 2019 als große Wandbilder dauerhaft in der U-Bahnstation an der Konstablerwache ausgestellt. Täglich begrüßen sie alle, die mit der U-Bahn 5 von der Konstablerwache aus in Richtung Hauptbahnhof fahren.
Nicht allein die Stadt und Bauten, auch das menschliche Antlitz fesselte ihn. So gab sich die Prominenz aus Wirtschaft, Politik. Kultur und Show-Business in seinem Atelier die Klinke in die Hand. Beeindruckende Modellbücher, in denen er sowohl Fotos seiner Porträts als auch Kommentare unzähliger Größen wie etwa Gustav Gründgens, Hildegard Knef, Maria Schell oder Klaus Maria Brandauer festhielt, berichten von den Zwiegesprächen zwischen Maler und Modell.
Ein breites Publikum sah ihm in seiner populären Fernsehsendung „Sehr ähnlich, wer soll’s denn sein“ dabei zu, wenn er sich mit dem Zeichenstift und mit sorgsam ausgewählten Fragen der Person näherte. Dabei erkundigte er sich nach vielem, auch Alltäglichem und wie in einem Puzzle entstand zugleich ein Psychogramm des Porträtierten. Nah, originell und dennoch respektvoll. Natürlich erlebte er dabei oft auch komische Szenen. Wie etwa bei dem Porträtdialog mit Johannes Heesters, der in praller Sommersonne und von Scheinwerfern angestrahlt Modell saß und sich weigerte, die Szenerie während der Mittagspause zu verlassen. Ganz Profi der alten Filmschule sagte er, „Nein, auf keinen Fall, ich bin doch eingeleuchtet.“ Das Resultat war ein schlimmer Sonnenbrand am Abend, über dessen Malaisen man sich beim gemeinsamen Umtrunk hinwegtröstete. Für diese Serie erhielt er 1980 in New York den „Golden Award“ auf dem Internationalen Film- und Fernsehfestival.
Als junger Künstler startete Ahrlé seine Karriere damit, dass er Programmtitel der Berliner Philharmoniker, darunter die Porträts von Sergiu Celibidache, Wilhelm Furtwängler und Yehudi Menuhin gestaltete. Zeitlebens fesselte ihn die klassische Musik. Sinnbilder seiner Bedeutung als Maler sind die in dem Zyklus „Gemalte Musk“ geschaffenen, großformatigen Ölgemälde, in denen er sich ausgewählten Kompositionen bedeutender Musiker widmete. Dabei zeigt sich eine große Bandbreite. Von George Gershwin’s „American Rhapsody in blue“ über „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss bis hin zu Pjotr Iljitsch Tschaikowskis „Zuckerfee“ – das Wechselspiel intensiver Farben, eine nur leicht angedeutete Figuration und die individuelle Rhythmik der Linien öffnen den Blick zum musikalischen Kern.
Wie bedeutende Musiker konnte er auch folkloristisch und humorvoll darstellen. Ein Ausdruck dafür sind großformatige Wandbilder, Auftragsarbeiten, die er noch bis kurz vor seinem Tod schuf. Für das Berliner Restaurant „Augustinerbräu am Gendarmenmarkt“ etwa entwarf er ein 16 Meter langes und ein Meter hohes Ölgemälde. In schillernden Farben evoziert er die fiktive Reise und Begegnungen des Mönchs, „Bruder August“ durch München und Berlin. Wie Ferry selbst begegnet der Mönch dabei einfachen Bürgern, aber auch viel Prominenz. Die Umsetzung erfolgte mit sicherer Hand, wobei er sich jeweils Zentimeter um Zentimeter vortastete. Noch heute kann man das Werk im Restaurant bewundern. Wenn man dort ein Krug Bier genießt, lohnt sich zudem der Besuch des in unmittelbarer Nähe gelegenen Restaurants „Lutter und Wegner“. Denn die in der E.T.A. Hoffmann-Stube ausgestellten Zeichnungen, die Leben und Werk des Dichters thematisieren, stammen aus seiner Feder. Der Schauspieler Walter Renneisen und Freund Ahrlés zollt ihm besonders für die großen Wandgemälde Respekt. „Ferry besaß eine nie versiegende Schaffenskraft und eine eiserne Disziplin. Am meisten bewunderte ich seine große Neugierde. Ruhe- oder gar Stillstand waren ihm fremd.“
Da gäbe es noch so viel zu berichten. Jeder, der Ferry Ahrlé kannte, kommt ins Schwärmen. Sogar der Frankfurter Satiriker Thomas Bäppler-Wolf, der nicht für das Belcanto steht. „Ferry Ahrlé war ein ganz bezaubernder Mensch, ein toller Künstler und ein wirklich lieber Kerl. Ich hatte ja die große Ehre, ihn damals noch in meiner Show „Bäppis Couchgebabbel“ zu haben. Da hatte er mich ja auch noch gemalt. Später habe ich dann ein Bild aus seinem Nachlass gekauft. Er hatte Gert Fröbe gemalt zu den Dreharbeiten zum Film „Berliner Ballade“. Er war ein großartiger Künstler und für Frankfurt eine Bereicherung.“
Auch das gilt: Hinter jedem bedeutenden Mann steht eine starke Frau. „Seine genialische Kunstfeder erschuf originäre Kunstwelten, unter deren Kuppel viele emotional Platz gefunden haben. Ferry und Sigi (Sigrid) wurden ihr eigener, schöner Kontinent“, erinnerte Hilmar Hoffmann. Ferrys Lebenselixier war Gattin Sigrid, die sich heute liebevoll mit dem künstlerischen Nachlass beschäftigt.
Lieber Ferry, da mag es zwar mit „Grappa anfangen“, aber selbst bei einem abschließenden Gläschen „ende’s“ nicht. Deine Story geht weiter.
Text von Edda Rössler
Veröffentlicht in Frankfurter Neue Presse