Was bewegt einen Künstler, mit dem äußerst dünnen Pinsel Stärke 0 jahrzehntelang pastöse Farblandschaften auf Leinwand aufzutragen? Hügel für Hügel, wie kleine Mondkrater, manifestiert sich die Ölfarbe auf dem Maluntergrund. Seit 1994 ist das der Arbeitsstil von Ekrem Yalcindag (Jahrgang 1964), einem der renommiertesten türkischen Künstler der Gegenwart und Meisterschüler von Hermann Nitsch. Die Belohnung für all die Mühsal erkennt man auf den ersten Blick. In der großen, im Bahnhofsviertel gelegenen Ausstellungshalle seines Frankfurter Galeristen Kai Middendorff ist der Anblick der Gemälde, die Farbe in wahre Sinnesräusche verwandelt, betörend. Der Kunsthistoriker Robert Fleck sprach anlässlich der Eröffnungsrede zur Vernissage von „Augenweiden“.
„Ich habe 35 florale Muster entwickelt“, sagt Ekrem Yalcindag pragmatisch. Sein malerisches Alphabet bildet die Struktur seiner Bilder und ummantelt im lockeren Reigen wie ein Wabennest die einzelnen Farbnester. Wie zum Beweis skizziert er mit lockeren Strichen ein kleines Netz seiner Buchstaben als Widmung in einen Ausstellungskatalog. Das vibrierende Gebilde, das an von einem zarten Windhauch zusammengewehte Blütenblätter erinnert, wirkt leicht und dennoch stringent, ganz so als hätte es niemals anders angeordnet werden dürfen.
„Genau so entstehen meine Arbeiten“, sagt Yalcindag. „Ich zeichne zuerst mit einem Bleistift die Formen auf die Leinwand, anschließend übermale ich das Gitter mit Silberfarbe“. In das Gitter trägt er über mehrere Wochen hinweg mit unzähligen Pinselstrichen Farbberge auf und man kann erahnen, wieviel Meditation dabei mit im Spiel ist. „Die Rolle der Zeit“, der Zeit der Entstehung, aber auch der Zeit der Rezeption der Werke, das ist eine wichtige Dimension in Yalcindags Werken“, betont Robert Fleck.
Es scheint, als ob man die Geräusche und die Atmosphäre der Städte, in denen der Künstler lebt und arbeitet, spüren kann. Ein Hauch von Berliner Luft oder eine Brise Bosporus ist immer miteingefangen.
In der aktuellen Ausstellung „Voyage“, die in Deutschland die erste des Künstlers nach der Pandemie ist, bespielen 16 Gemälde die Galeriewände. Dabei verdienen insbesondere die neuen Werke der Serie „Infinity“ Beachtung, wirken sie konzentrierter und in sich geschlossener als die Arbeiten aus den Vorjahren. Neben den für den Künstler beliebten rechteckigen Formaten zeigt er Tondi. Eine Klasse für sich ist „Sunrise“, ein Acrylwerk auf Aludibond mit dem stattlichen Durchmesser von 320 cm. Dieser Sonnenaufgang, der nahezu alle Facetten der Farbe Orange zelebriert, erinnert an all die faszinierenden Sonnenaufgänge, die wir selbst schon beobachteten und subsumiert sie als idealtypischen. So als hätte ein Computerprogramm aus den schönsten Sonnenaufgängen den perfekten herauskristallisiert. Dieser Sunrise ist weit entfernt aller kitschigen Konnotationen und ruht wie ein würdevoller Planet in sich. Er will nicht begeistern, überzeugen, argumentieren, er existiert.
In unmittelbarer Nähe, schräg gegenüber, wartet ein Triptychon auf Entdeckung. „Yellow Orange Red“, all die herrlich warmen Farben, die Yalcindag in Sunrise sinfonisch komponierte, überzeugen auch als lebensfrohe Solisten.
Die Ausstellung „Voyage“ ist noch bis zum 14. Mai geöffnet. Weitere Informationen unter www.kaimiddendorff.com
Text und Foto von Edda Rössler
Am 26. Februar 2022 veröffentlicht in Frankfurter Neue Presse